Mythologie in der Alltagswelt
(Manuel Baumbach, in: Der Neue Pauly, Bd. 15.1, 632-636)
A. GEGENSTANDSBEREICH :
Ein trojanischer Held im Putzeimer, ein olympischer Gott
als Rakete, eine Muse zum Fahren: Mythische Figuren der griech.-röm.
Antike wie Ajax, Apollo oder Clio haben in der modernen Gesellschaft
ihren festen Platz, und je nachdem, wie weit man den Begriff
der Alltagswelt faßt, begegnen sie täglich als
Produktnamen, in der Werbung, Subkultur, in Filmen, Computerspielen,
Kunst und Literatur, im Berufsleben, Internet oder dem allgemeinen
Sprachgebrauch. Allerdings treten die myth. Figuren oft in
Gewändern auf, unter denen ihre ursprüngliche Gestalt,
der antike Mythos, nicht mehr zu erkennen ist, so daß
bei einer rezeptionsgeschichtlichen Betrachtung jeweils zu
prüfen ist, welche Rolle der antike Kontext überhaupt
noch spielt und worin die Bedeutung der Mythen in der heutigen
Alltagswelt liegt. Dabei kann das Problem der Mythos-Definition
in den Hintergrund treten, da es nicht entscheidend ist, ob
es sich bei den antiken Mythen um ein 'Wissen in Geschichten'
oder um "traditionelle Erzählungen mit besonderer
'Bedeutsamkeit'" [1,14; 2] handelt, sondern welche 'Geschichten'
in einer Gesellschaft als Mythen wahrgenommen und tradiert
werden. Im europäischen Kulturraum steht diese Frage
im engen Zusammenhang mit der jeweiligen Präsenz der
griech.-röm. Antike als Quelle der Mythen. Eine erste
Erschließung der Mythen in der europäischen Alltagswelt
wird z.Z. durch ein von der EU geförderte Projekt im
Rahmen des Sokrates-Programms versucht.
B. REZEPTIONSGESCHICHTLICHE VORAUSSETZUNGEN
AM BEISPIEL DES DEUTSCHEN SPRACH- UND KULTURRAUMS :
Das Fehlen einer topographischen Kontinuität antiker
Mythen über ihre Rückbindung an bestimmte Plätze,
wie sie in Griechenland oder Italien besteht, macht deren
Vermittlung vom Grad der Bildung abhängig. Während
die griech.-röm. Mythologie im 19. Jahrhundert auf der
Grundlage des Neuhumanismus und einer staatlich geförderten
Antikenbildung [3, 30-55] zum Objekt einer starken künstlerischen,
musikalischen und literarischen Rezeption wurde und v.a. durch
Gustav Schwabs "Die schönsten Sagen des klassischen
Altertums" (3 Bde., zuerst 1838-40) breite Bevölkerungsschichten
schon von Kindheit an erreichte, ist im 20. Jh. nach dem Verlust
des Bildungsmonopols der humanistischen Gymnasien die Auseinandersetzung
mit den antiken Trägern seltener und der Zugang zu den
Mythen über eine direkte Rezeption erschwert.
Gleichwohl legte die populäre Sammlung Schwabs den Grundstein
für eine Herauslösung der Mythen aus ihrer engen
Verknüpfung mit der Antikenrezeption: In ihrer deutschen
Fassung konnten aus den antike Mythen 'klassische Sagen' werden,
die auch in einer nicht von der humanistischen Bildung geprägten
Gesellschaft gelesen werden und sich von ihren antiken Trägern,
v.a. den Metamorphosen Ovids und dem mythographischen Handbuch
Ps.-Apollodors abgekoppelt haben. Mit dieser indirekten Rezeption
setzt eine verstärkte Kanonisierung der Mythen ein: Schwabs
Sammlung enthält nur eine Auswahl bestimmter Mythen,
die in einer geglätteten Fassung präsentiert werden,
so daß aus verschiedenen Versionen ein einheitlicher,
stringenter Gesamtmythos konstruiert wird. Die Nuancen, Variationen
und die für die antike Mythographie charakteristische
Offenheit der Ausgestaltung [® Mythos] gehen dabei für
die Rezeption verloren.
Die Arbeit am Mythos [4] hört nicht auf: In Auseinandersetzung
mit der antiken (oder vermittelten) Version werden neue Kontextualisierungen
versucht, die das Potential der Mythen zeigen und weiter ausloten.
Rezeptionsobjekte und -zeugnis kommentieren sich so gegenseitig,
wobei die benutzte Vorlage als Kontrastfolie dienen oder bewußt
ausgeklammert werden kann, um z.B. einen neuen Mythos zu schaffen.
Je nach Intensität des Dialogs mit der Antike, der durch
eine Rezeption eröffnet und/oder von dem Rezipienten
erkannt wird, kann es zu einer Reduktion des Mythos auf einen
oder mehrere Teilaspekte bis hin zu einer reinen Begriffs-
oder Namensrezeption kommen, bei der keine Anspielung auf
den Mythos mehr intendiert ist und allein der Klangehalt des
myth. Namens interessiert, mit der allenfalls die Autorität
einer nicht weiter spezifizierten Antike verbunden ist.
C. PRÄSENZ DER MYTHEN IN DER ALLTAGSWELT
DER GEGENWART.:
1) Ein direkter Rückgriff
auf die antiken Vorlagen ist seltener geworden und findet
im wesentlichen in den Bereichen der Kunst und Literatur mit
Blick auf eine gebildete Adressatengruppe statt. Solche Rezeptionsprodukte
stehen ganz gleich in welchem Maße mit dem antiken Mythos
und/oder der Tradition seiner Rezeption in Verbindung und
suchen diese Rückbindung, um ihre Wirkung entfalten zu
können: Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988) lädt
zu einem Vergleich mit Ovids Metamorphosen ein [5], und die
Kenntnis der antiken Mythen wird bei der Lektüre von
Stan Nadolnys Ein Gott der Frechheit (1994) vorausgesetzt,
um in der Satire auf die moderne Gesellschaft mittels antiker
Mythen zugleich eine Parodie der antiken Mythen und Götter
über ihre Transformation ins 20. Jh. zu erkennen. Kanonische
Beschränkungen finden sich für die literarische
und künstlerische Mythenrezeption nicht [Beispiele in
6 mit Literaturverweisen], sondern der Rekurs auf die ganze
Breite der Mythologie wird zum Thema, und ausgehend von populären
und kontrovers diskutierten Rezeptionszeugnissen wie Christa
Wolfs Kassandra werden Fragen nach Grenzen im Dialog mit der
Antike und der Aktualisierung ihrer Mythen gestellt.
2) Weitaus am häufigsten
finden sich Zeugnisse indirekter Rezeption mit dem Aufgreifen
von Traditionsströmen, in denen der antike Kontext nur
teilweise bzw. selektiert erhalten ist. Entsprechend vorsichtig
sollte man bei vielen modernen Rezeptionszeugnissen mit einer
zu sehr auf die Antike blickenden Zugangsweise sein, um nicht
wie Goethes Herold im Faust an seinem Objekt zu scheitern:
"Die Bedeutung der Gestalten/ Möcht' ich amtsgemäß
entfalten./ Aber was nicht zu begreifen,/ Wüßt'
ich auch nicht zu erklären." (5506-9) Das exegetische
Dreieck von Rezeptionsobjekt, Rezpient und Adressat muß
von Fall zu Fall neu bestimmt werden, und je nachdem was für
ein Dialog geführt wird, spielt die antike Vorlage nur
eine untergeordnete Rolle oder verbirgt sich hinter der Doppelstrategie
des Rezipienten, sowohl für einen Adressaten mit Kenntnis
der Mythen wie für einen ohne dieses Wissen ein attraktiven
Rezeptionsprodukt zu bieten. Dabei können sich auch Divergenzen
im Dialog von Rezipient und Adressat ergeben, wenn ein Rezeptionszeugnis
einen anderen Kontext evoziert als er bei dem Adressaten vorhanden
ist. Bucht man beispielsweise einen Flug mit "Ikarus-Reisen",
so muß man davon ausgehen, daß der Name in Unkenntnis
der negativen Seite des Mythos, dem Absturz von Ikarus, gewählt
wurde, und daß eine Reduzierung der Figur auf ihre positive
Seite, die Idee des Fliegens, erfolgte. Umgekehrt wird bei
der Wahl der myth. Figur gezielt mit der Kenntnis des Adressaten
gearbeitet, der sich gern einer 'Apollo Optik' oder der Detektei
'Argos' anvertrauen soll und den Wäschesalon "Adonis"
um so lieber betreten wird, wenn er weiß, daß
sich hinter dem Namen ein schöner Jüngling verbirgt,
dessen Anblick sogar Göttinnen verführt.
Eine Sonderstellung nimmt die Rezeption der antiker Mythen
im Bereich der Subkultur ein, wo Mythos teils als etwas Mystisches,
Irrationales verklärt, teils eskapistisch verwendet wird:
Mythen erscheinen als Wegweiser in eine phantastische Welt,
dienen als Fluchtpunkte aus der aufgeklärten Zeit und
als Möglichkeit, der Realität einer mythenlosen
Gesellschaft zu entkommen. Für diesen Zweck bieten sich
die antiken Mythen an, da sie bereits existieren und zumindest
vage präsent sind, so daß man keine 'neuen Mythen'
mitsamt Inventar erfinden und dem Rezipienten schmackhaft
machen muß. Der Erfolg von Comics [7] und Computerspielen
mit antiken Mythen spricht für sich und bezeugt das großes
Interesse, für die Dauer eines Spiels der Realität
zu entkommen und etwa als TOMB RAIDER in die Welt eines König
Midas einzutauchen.
3) Läßt sich bei vielen
Zeugnissen noch ein Bezug zum antiken Mythos herstellen, so
erscheinen myth. Figuren besonders in der Produktwerbung oft
ohne erkennbaren Rückbezug zu ihrem ursp. Kontext und
werden zu universell einsetzbaren Begriffen wechselnden Inhalts.
Im Bereich Heidelberg beispielsweise lassen die Gelben Seiten
für das Jahr 1999/2000 bei acht von insgesamt 19 Verwendungen
myth. Figuren keinen Antikenbezug erkennen: So repräsentiert
Hera eine Glaserei und Zeus ist Namenspatron einer Gesellschaft
für Nutzfahrzeuge. Überregional gesellt sich das
eingangs erwähnte Fahrzeug 'Klio' zum Küchenherd
'Juno' und dem Schokoladenriegel 'Mars'. Daß in der
Wirtschaft verstärkt mit dem Namen antiker myth. Figuren
gearbeitet wird, erstaunt nicht, schließlich äußert
sich im Rückbezug auf ein gemeinsames kulturelles Erbe
die Suche nach möglich breiten Identifikationsangeboten
für einen europäischen Kundenkreis. Auch im allgemeinen
Sprachgebrauch lassen sich vielfach Spuren von Mythen, deren
Bedeutung nicht mehr mit der Kenntnis des Mythos verbunden
ist: Wer denkt beispielsweise bei einem "panischen Schrecken"
noch an den Hirtengott oder wird vom Klang einer Alarm-Sirene
angelockt? Haben viele alltäglich gewordenen mythischen
Figuren so ihren Mythos verloren, stellen sie gleichwohl ein
Potential zur erneuten Beschäftigung mit der Antike dar.
Man muß sich nur anregen lassen, "den hochkomplexen,
ja widerstreitenden Botschaften nachzuspüren, die aus
den alten Geschichten herausklingen" [1, 25], doch genau
das ist die Achillesferse.
BIBLIOGRAPHIE:
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Tradition, 1999 2) A. Horstmann, Der Mythosbegriff vom frühen
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1979 5) M. Moog-Grünewald, Über die ästhetische
und poetologische Inanspruchnahme antiker Mythen bei Roberto
Calasso, Le nozze de Cadmo e Armonia und Christoph Ransmayr,
Die letzte Welt, in: H. Hofmann [wie 1], 243-60 mit Bibliographie
6) V. Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur,
2000 7) T. Lochmann, ANTICO-MIX, Antike in Comics, 1999
8) R. Barthes, Mythen des Alltags, 1964; 9) K.-H. Bohrer (Hg),
Mythos und Moderne, 1983; 10) H. Dickinson, Myth on the Modern
Stage, 1969; 11) M. Fuhrmann (Hg), Terror und Spiel. Probleme
der Mythenrezeption, 1971; 12) F. Graf, Mythos in mythenloser
Gesellschaft. Das Paradigma Roms, 1993; 13) K. Jaspers / R.
Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, 1981; 14) L.
Kolakowski, The Presence of Myth, 1989; 15) W. Olbrich, Antike
Mythen in moderner Prosa, 1986; 16) R. Schlesier, Faszination
des Mythos, 1985; 17) I. Stephan, Musen & Medusen. Mythos
und Geschlecht in der Literatur des 20. Jhs.1997; 18) R. Stupperich,
Lebendige Antike, Rezeptionen der Antike in Politik, Kunst
und Wissenschaft, 1995; 19) O. Taplin, Feuer vom Olymp, 1991;
20) Ch. Trilse, Antike und Theater heute. Betrachtungen über
Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion
und Methode, Stücke und Inszenierungen, 19792
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