Antike Mythen in den Gelben Seiten des Bereiches Heidelberg (1999/2000)
Ein Blick in die Gelben Seiten für den Raum Heidelberg führt bei der Suche nach der Präsenz von Mythen in der Alltagswelt zu einem recht bescheidenen Ergebnis: Bei Straßennamen werden mythische Bezeichnungen überhaupt nicht verwendet, und im Bereich von Handel, Handwerk und Industrie lassen sich nur 19 Fälle nachweisen. Dennoch zeigen die Beispiele sehr schön, welche Spannungen sich mit dem Herauslösen eines mythischen Names aus seinem antiken Kontext und der Einbettung in einen völlig neuen Kontext ergeben. Dabei läßt sich in einigen Fällen die Übernahme nur durch Unkenntnis des antiken Mythos erklären, während andere bewußt mit der mythologischen Gestalt arbeiten, um bestimmte Assoziationen beim Kunden / Interessierten zu wecken bzw. zu nutzen. Welche Aspekte des Mythos dabei hervorgehoben bzw. ausgeblendet werden, zeigen die folgenden kurzen Beobachtungen.
Adonis : Wäscheboutique
Als Namenspatron für eine Wäschegeschäft wird Adonis in seiner äußeren Erscheinung als schöner Jüngling rezipiert, wogegen die tragische Geschichte, daß er auf der Jagd von einem Eber getötet wurde und zum Sinnbild für das rasche Hinwelken der Natur wurde, ausgeblendet ist.
Äskulap : Apotheke
Der Gott der Heilkunst, Asklepios (lat. Aesculapius), findet sich häufig als Apothekenname. In der Antike wurde mit ihm das Heilverfahren der Inkubation verbunden: Bei einem Heilschlaf des Kranken innerhalb des Heiligtums gab der Gott durch Träume Hinweise auf die richtigen Heilmittel, die dann von der Priesteschaft gedeutet und verabreicht wurden. In Anlehnung an den Heilgott nannten sich die Vertreter der wissenschaftlichen Medizin Asklepiaden. Die Asklepios-Apotheken führen mit dem Gott das Prinzip der Heilung im Namen, weisen dem Kranken jedoch einen anderen Weg zur Genesung, da er seine Medizin "abholt" und nicht - wie im Altertum - an Ort und Stelle geheilt wird.
Auch das Attribut des Gottes, der von einer Schlange umwundene "Asklepiosstab" wird als Symbol vieler Asklepios-Apotheken weitergetragen.
Apollo : Optiker
Apoll als Optiker gewinnt seine Berechtigung aus zwei seiner vielen Funktionen, die er als Gott des Ackerbaus, Heilgott, Hirtengott, Orakelgott, Gott der Künste und Sonnengott in der Antike besaß: Die Brille wird als praktische Hilfe des klaren Sehens einerseits mit dem lichtbringenden Sonnengott in Verbindung gesetzt, knüpft als Symbol den ungetrübten Schauens andererseits an den Orakelgott Apoll an. Auf dieser Ebene wird die Weissagungskraft und Erkenntnisgabe des Gottes auf die Brille übertragen, die nicht nur klaren Blick sondern auch Durchblick verschafft.
Argus : Detektei
"Mit Argosaugen über etwas wachen," - wo könnte diese sprichwörtliche Wendung einen besseren Platz finden als im Motto oder Namen einer Detektei. Argos war in der Antike die Verkörperung der Scharfsichtigkeit und wurde wegen seiner hundert Augen von Hera als Wächter der Io eingesetzt, die sie aus Eifersucht in eine Kuh verwandelt hatte. Argos hat seine Augen überall, und daß auch er schließlich selbst überwunden und getötet wurde, schmälert seine Fähigkeit (oder die der Detektei) nicht, da sein Bezwinger kein Mensch, sondern ein Gott, nämlich Hermes, war.
Atlas : Reisebüro
Man muß bei "Atlas" nicht unbedingt an eine mythologische Figur denken und nichts liegt näher als den Namen eines Reisebüros "Atlas-Reisen" mit dem in Verbindung zu bringen, was ein Reisebüro tut: Den Kunden mithilfe eines Kartenwerks an bestimmte Orte in der Welt zu bringen. Doch auch hinter diesem praktischen "Atlas" steht der griechische Gigant gleichen Namens, von dem sich die Bezeichnung herleitet: Atlas, der Bruder des Prometheus, wurde von den Göttern wegen seiner Beteiligung am Kampf der Titanen gegen sie, mit dem Tragen des Himmelsgewölbes bestraft. Er steht am Westrand der Erde und muß mit seinen Schultern die Last tragen. Damit wird er zu einer statischen Figur, die gerade nichts mit Reisen zu tun hat, da er seinen Platz nicht verlassen darf. Dafür bereisen seine Töchter, die Pleidaden und Hyaden als Sternbilder das Himmelsgestirn und seine Tätigkeit garantiert das Bestehen der Welt und ihr geographisches Erscheinungsbild, das ihn zum Namens-‚Träger' von Kartenwerken und Reisebüros werden ließ.
Bacchus : Weinhandel
Den Weingott Bakchos, auch Dionysos genannt, zum Namenspatron zu erheben steht einem Weinhandel in jeder Hinsicht gut an. Auch seine Attribute, Rebe und Efeukranz, finden sich oft als Symbole abgebildet.
Diana : Kosmetikstudio
Ob mit dem Namen das Bild der römischen Mondgöttin und Beschützerin der Frauen oder das der englischen Prinzessin evoziert werden soll, sei dahingestellt. In jedem Fall schmückt sich das Kosmetikstudio mit der mythischen oder auch realen Schönheit einer Frau, wobei die Assoziation mit der antiken Göttin die Exklusivität des Ortes für Frauen unterstreicht, da in Rom zumindest zu einem ihrer Heiligtümer Männer keinen Zutritt hatten.
Dionysos : Design
Für Weinläden ein auf Anhieb passender Namenspatron erscheint der griechische Weingott Dionysos in Verbindung mit Design ungewöhnlich, so daß bewußte Antikenrezeption nicht vorliegt. Allenfalls über seine Verbindung mit dem griechischen Theater und seiner Funktion als "Maskengott" ließe sich ein Bezug herstellen.
Europa : Gaststätte, Kino
Die etymologische Bedeutung des Names "Europa" ist unsicher, und es läßt sich in der Verwendung als Gaststätten und Kinobezeichnung wohl auch kein bewußter Bezug auf die phönizische Königstochter Europa sehen, die von Zeus aus Liebe nach Kreta entführt wurde, nachdem er sich ihr in Gestalt eines Stieres genähert hatte. Dennoch wäre eine solche Verwendung bei einem Kino nicht unpassend, läßt man sich doch für die Dauer des Films aus seiner Welt in eine andere "entführen".
Helios : Filmproduktion
Der Sonnen- und Lichtgott Helios ‚beleuchtet' die Filmproduktion in doppelter Weise: Zum einen fährt er wie eine Kamera als sehendes Auge über das Himmelszelt und beleuchtet die Vorgänge auf der Erde, liefert also als Lichtquelle die praktischen Voraussetzungen für einen Film. Zum anderen ist sein Sehen ein entlarvendes, durchschauendes, dem nichts verborgen bleibt, wie der Film, der die menschliche Welt in allen Aspekten betrachten will.
Hera : Glas
Unter dem Motto "Wir bieten glasklare Lösungen" tritt Hera-Glas in den Gelben Seiten ausgesprochen transparent in Erscheinung. Dabei hat man sich mit der Gemahlin des Zeus eine hohe Autorität als Namensgeberin gewählt, womit sich allerdings die Bezüge zur antiken Gestalt schon erschöpfen. Hera ist in der Antike (obgleich vielfach von ihrem Gatten betrogen) die Beschützerin der Ehe und wird mit Hochzeitsbräuchen in Verbindung gesetzt,- so gesehen ist ihre Rolle in der Ehe als unbescholtene Ehefrau in der Tat "glasklar" und transparent.
Hermes : Verlag, Verlagsbuchhandlung
Wie der Götterbote die Nachrichten des Zeus den Menschen übermittelt, so kann sich auch ein Verlag als Mittler zwischen Autor und Leser verstehen, als Hermes, der in Form von Bücherproduktion diese Kommunikation ermöglicht. Damit verbinden läßt sich die Funktion von Hermes als Handelsgottheit, die er mit seinen Namensvettern teilt.
Mars : Messe- und Ausstellungsbau
Was der italische Kriegsgott Mars mit Messen und Ausstellungen als Orte des friedlichen Zusammenkommens gemeinsam hat, ist fraglich. Hier läßt sich die Namensverwandtschaft mit dem Gott nicht aus der Antike erklären, allenfalls, wenn man eine Nebenfunktion des Gottes in Betracht zieht, die er in früher Zeit als Schutzgott der Felder hatte und damit für den Zyklus der Erneuerung mitverantwortlich war.
Merkur : Mietwagen
Das römische Pendant zu dem griechischen Götterboten Hermes paßt ausgezeichnet zu einer Mietwagenfirma, insofern das Auto wie der Gott ganz konkret die Überwindung von Distanzen und die Verbindung von auseinanderliegenden Orten symbolisieren. Allein die Mittel dazu haben sich geändert: Während Hermes mit Flügelschuhen unterwegs ist, wird der moderne ‚Hermes' von Motorkraft bewegt.
Phönix : Buchhandel, Gaststätte
Die Verbindung von dem sagenhaften Phönix mit einem Buchhandel ist insofern gut gewählt, als er ähnlich wie Hermes oder Merkur als fliegende Bote erscheinen kann, der alle Teile der Welt erreicht und Autoren mit Lesern verbindet. Die griechische Vorstellung von Phönix als Vogel, der sich nach einer Lebenszeit von 500 Jahren selbst verbrennt, aus der Asche neu entsteht und so ein Symbol für Auferstehung und ewiges Lebens wird, ist wohl nicht rezipiert.
Zeus : Nutzfahrzeuge / Import
Der höchste der Götter, der als Götter- und Menschenvater galt und die Welt als Wetter-, Sühne-, Hausgott und Beschützer der Gesellschaftsordnung regierte, will sich nicht so recht mit Nutzfahrzeugen verbinden lassen. Es ist wohl der Bekanntheitsgrad des Götternamens, der zu dieser Inanspruchnahme bewogen hat, wobei die ursprüngliche Bedeutung völlig verloren gegangen ist.
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